(gra) Der „Gröfaz“ („größter Führer aller Zeiten“) hatte uns Deutschen bei seiner Machtübernahme 1933 „Das Tausendjährige Reich“ versprochen. Darin sollte die deutsche Herrenrasse herrschen über alle anderen „minderwertigen Menschen“. 1945, nach sechs Jahren Krieg, waren davon nur rauchende Trümmer übrig, unzählige Menschen auf der Flucht, vertrieben, getötet, verwundet, verarmt oder in Gefangenschaft.
Hamburger Hafen
Als Neunzehnjährige, immer nur belogen von der Nazi-Führungselite, von Eltern und nicht Linientreuen ängstlich zum Schweigen gemahnt, stand ich 1945 plötzlich im von den Siegermächten viergeteilten Deutschland. Trotzdem war ich „In Freiheit“. Was bedeutete das?
„Freiheit“ bedeutete für uns junge Menschen, dass sich ein völlig neues, bisher verbotenes, fröhliches Universum für uns auftat! Da kamen ganz tolle Rhythmen über den großen Teich, Satchmo brummte „what a wonderful world“, wir tanzten Jitterbug in abgelatschten Schuhen und hörten begeistert Chris Howland im Radio mit den neuesten englischen Schallplatten. Wir hätten sogar reisen dürfen. In die ganze Welt! (Wenn wir das Geld dafür gehabt hätten!)
Dafür aber lasen wir endlich die verfemten Schriftsteller: Thomas Mann, Hermann Hesse, Stefan Zweig, und hörten endlich große Musik wie Mendelssohn, Strawinsky, Schostakowitsch und ihre wundervollen Interpreten. Meine Freunde und ich „lebten vorwärts“ in der Zukunft, die uns bisher verschlossen war! Wir ließen Vergangenes hinter uns. Wir taten ohne Angst Verbotenes, um irgendwie durchzukommen: wir warfen Kohlen von langsam fahrenden Güterzügen, damit Mutter kochen konnte. Das hieß „fringsen“, weil Kölns Kardinal Frings das nicht als Sünde ansah. Geklaut habe ich auch: in einer Bäckerei im französisch besetzten Oberstdorf ein 750 g-Brot, Mai 1945, als wir für eine Woche auf Lebensmittelkarten nichts weiter zu essen bekamen als 500 g Brot!!
Ganz Deutschland hungerte bis 1948. Der Schwarzmarkt blühte, auch blühten zwei „Veilchen“ im Gesicht unseres Freundes Lutz, dem jungen Dr. med., der als „Zwischenhändler“ auf einem Bahnsteig Süßstoff schwarz verscherbelte, um die Essration seiner schwangeren Frau aufzubessern. Das ging zunächst gut. Doch die zweite Rate war ohne sein Wissen fast nur Natron. Die Schwarzhändler, erbost, lauerten dem Doktor auf und prügelten ihn windelweich. Indem kreischte ein uralter Zug genau ins Geschehen, darin mein Bruder, Zwei-Meter-Mann, auf Schwarzmarkt-Tour aus der Pfalz heimgekehrt mit Tabakblättern, schmeißt sich ins Gewühl, katapultiert unsern Freund und sich wieder in den Zug – und ab geht’s Richtung Oberhausen. (Wegen dem Tabak kam die Zollfahndung ins Haus meiner völlig unschuldigen Eltern und beschlagnahmte die Küchenwaage!)
Frau Dr. Inge gebar tags drauf einen Knaben. Ihre Bettnachbarin in der Klinik wurde mit den leckersten Häppchen von ihrem Mann traktiert. „Und weißt Du“ , flüstert Inge mir zu: „die Frau füttert mich unentwegt mit. Wunderbar! Die haben alles! Der Mann treibt Schwarzhandel als Klomann im Café Stewy! Und ich sage Dir, unser Junge wird kein Akademiker! Der wird Klomann!!“
Inge weinte wegen dieser „Demütigung“ jahrelang. Aber wir Jugendlichen lachten über sowas, ließen uns nicht niederdrücken; wir räumten Trümmer von Straßenbahnschienen, schoben Loren voll Schutt, suchten brauchbare Ziegelsteine zum Verkloppen heraus und hofften auf bessere Zeiten. Dann wollten wir etwas Solides lernen, studieren, uns verlieben, Kinder kriegen und mit Satchmo „what a wonderful world“ singen!
Zu meiner Wonne creirte Christian Dior den New Look; Lydia nähte aus zwei alten Kriegskleidchen ein nachempfundenes „Dior-Modell“ und erwarb einen rauschenden Petticoat, echt USA!! Wir waren angekommen in Frieden und Freiheit! Ja! Leider nur West-Deutschland! Aber immerhin, der Krieg war zu Ende!… Und irgendwann sang Milva: „Hurra, wir leben noch! Was mußten wir nicht alles überstehn – und leben noch!“
Das blieb bis heute mein Lieblingssong!
Lydia Grabenkamp
Zitat aus der Überschrift:
Schiller, WilhelmTell, Attinghausen:
Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten!
Und neues Leben blüht aus den Ruinen!
Fotoquelle:
Hamburger Hafen 1945
Wikimedia, gemeinfrei
Zwei typische Trümmerfrauen in Berlin
Steine klopfen janczikowsky.jpg
1999 als Geschenk an 44Pinguine gegeben
Wikimedia, gemeinfrei