… von der lebenden Flöte
Aus der Ukraine
Es lebten einmal ein Zar und eine Zarin. Sie herrschten glücklich, aber eines drückte sie: sie hatten keine Kinder. Da fragten sie nun die Weisen ihres Landes: „Sagt uns, liebe Leute, sollen wir denn wirklich in alle Ewigkeit keine Kinder bekommen?“ „Sorget euch nicht,“ sprachen diese, „gar bald wird die Zarin ihrem Zaren drei Söhne gebären. Doch nur zwei von ihnen werden Verstand haben, der dritte aber wird ein Dummer sein. Dies ist Gottes Wille!“
Wie sie es geweissagt, so geschah es auch. Noch im selben Jahr gebar die Zarin drei Söhne. Aber während gewöhnliche Menschenkinder Jahre brauchen, bis sie heranwachsen, waren die Zarenkinder bereits drei Tage nach ihrer Geburt schöne Knaben und nach sechs Tagen kräftige Jünglinge. Da gingen sie nun auf die Jagd oder schäkerten mit den Mädchen, kurz, es war eine Freude, sie anzusehen. Nur der Dumme blieb stets zu Hause, malte sonderbare Figuren in den Sand oder ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen.
Unser Zar hatte einen herrlichen Garten, den er über alles liebte und auf den er sich viel zugute tat. Es war aber auch wirklich eine Pracht diesen Garten anzusehen. Herrliche Äpfel- und Birnbäume, aber auch Nuß- und Maulbeerbäume waren darinnen. Ja, von den Weichseln zog unser Zar gar mehr als 30 Edelsorten. Ringsum grünten dichte Himbeer- und Ribiselsträuche. Eine Unmenge von Erdbeeren und Brombeeren wuchsen dort — und erst die Blumen! Alle möglichen seltenen Arten gab es hier, daß es gar nicht zu sagen ist, wie schön und prächtig die waren. So viele Vögel waren in dem Garten, daß es eine Lust war, ihrem Gesänge zuzuhören. Doch niemand durfte diesen Garten betreten, nur der Zar ganz allein. Hie und da, aber auch nur sehr selten, führte er die Zarin hinein, sonst aber verwehrte der Zar jedem den Zutritt zu seinem Garten. Daran tat er übrigens auch ganz Recht, denn der Garten war wie ein Paradies und nicht einmal in der fernen Krim gab es einen ähnlichen.
Doch eines Nachts, da kam, man weiß nicht wie, ein Eber in den Park und als der Zar am nächsten Morgen seinen geliebten Garten betrat, wollte er seinen eigenen Augen nicht trauen. Wie in einer Wüste sah es dort aus, so hatte der Eber darinnen gewütet Da ließ nun der Zar verkünden: „Wer diesen Eber erlegt, dem gebe ich mein halbes Reich und der soll nach mir der Höchste sein.“
Da fanden sich zunächst gar viele, die ihr Glück versuchten. Aber keinem gelang es, den Eber auch nur zu erblicken. Sobald die zwölfte Stunde herankam, umfing sie tiefer Schlaf und wenn sie am nächsten Morgen erwachten, hatte der Eber wieder neues Unheil im Garten angestiftet. Als sich nun niemand mehr melden wollte, da traten die zwei älteren Zarensöhne an ihren Vater heran und baten ihn, auch sie ihr Glück versuchen zu lassen. Der Zar überlegt sich’s und erlaubte es ihnen endlich. So wachten also die beiden Zarensöhne die nächste Nacht im Garten und warteten auf den Eber. Gegen Mitternacht aber fielen sie in tiefen Schlaf und wachten erst am nächsten Morgen auf. Auch sie hatten den Eber nicht einmal sehen können.
Zuletzt nun bat gar der Dumme, den Eber erlegen zu dürfen. Der Zar lachte wohl über sein Vorhaben, aber er gestattete es ihm schließlich. So ging denn unser Dummer hin und wartete. Schon wurde es Mitternacht. Er aber schlief nicht. Wie nun der Eber plötzlich aus dem Gebüsch hervorbrach und unser Dummer seine Flinte losdrückte, gab es einen Knall, dass sich der Eber in seinem Blute wälzte und tot hinfiel. Darauf legte sich der Dumme neben den Eber hin und schlief ein.
Seinen älteren Bruder hatte der Neid nicht schlafen lassen. Er lief in den Garten und als er dort den Dummen neben dem Eber schlafen sah, da nahm er sein Messer und stieß es ihm ins Herz. Dann grub er rasch eine Grube auf, legte den Leichnam seines Bruders hinein und deckte sie fein säuberlich wieder mit Erde zu. Dann ging er hin, holte einen Wagen, lud sich den Eber auf und fuhr damit geradewegs vor das Gemach des Vaters. Der Zar glaubte nun, dass er den Eber erschlagen habe und gab ihm alles, was er versprochen hatte. So verging ein Tag um den andern, eine Woche und eine zweite, als sich der Brudermörder anschickte, seine Hochzeit zu feiern. Den Dummen indes hatten alle vergessen. Nur sein Grab im Felde hatte das Geheimnis dem Südwind anvertraut.
Da traf es sich einmal, dass ein Schäfer zur Abendzeit dorthin seine Schafe auf die Weide trieb. Und als er auf das Grab hinblickte, da war ein hohes Schilfrohr hervorgewachsen, aufrecht wie eine Fichte. Er brach es ab, schnitte es sich zurecht und machte sich eine schöne Flöte daraus. Doch als er auf ihr spielen wollte, da weinte sie ihm nur immer und immer wieder dasselbe Lied vor:
„Spiel‘ doch leise, Schäferlein!
Schmerzt mich doch mein Herzelein,
Starb ich ja von Bruders Hand,
Der den Eber mir entwand.“
Da erschrak der gute Schäfer und wußte sich keinen Rat. Wen er auch die Flöte blasen ließ, alle spielten dasselbe Lied. Schließlich wußte er sich nicht mehr anders zu helfen und machte sich auf den Weg zum Zaren. Da er nun in die Zarenstadt kam, wollten ihn die Soldaten nicht in den Palast lassen. „Warte bis zum Abend,“ sprachen sie, „weißt du denn nicht, daß der Zar seit dem frühen Morgen auf der Jagd und nur die Zarin allein zu Hause ist?“ „So laßt mich wenigstens zu ihr, damit sie auf meiner Flöte spiele, vielleicht wird unterdessen der Zar zurückkehren“; meinte der Schäfer. Da aber unsere Zarin nicht stolzen Gemütes war, befahl sie, ihr den Schäfer vorzuführen. Kaum nahm sie die Flöte an die Lippen, erklang es:
„Spiel‘ doch leise, Mütterlein
Schmerzt mich doch mein Herzelein,
Starb ich ja von Bruders Hand,
Der den Eber mir entwand.“
Da wurde die Zarin nachdenklich und meinte: “Von wem nur diese Flöte pfeift?“ Unterdessen war aber auch der Zar nach Hause gekommen. „Nun, was spielt die Flöte?“ fragte er. „Gib her! Laß sehen!“ „O Zar,“ sprach die Zarin, „mir ist so traurig und weh ums Herz“. Doch er setzte an und spielte:
„Spiel‘ doch leise, Väterlein!
Schmerzt mich doch mein Herzelein,
Starb ich ja von Bruders Hand,
Der den Eber mir entwand.“
Da trat der Älteste eine: „Was ist dir, Vater“ Warum zitterst du“ Was ist hier vorgefallen? Laß mich auch einmal sehen!“ „Nun gut, spiel auch du, mein Sohn!“ Befahl der Zar. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirne, da er die Flöte zur Hand nahm und er wußte selbst nicht, wie sie plötzlich zu spielen begann:
„Spiel doch leise, Brüderlein!
Brachst mir doch ein Herzelein,
Starb ich ja von deiner Hand!
Fluch auf dich und ew‘ge Schand!“
Kaum hatte er zu Ende gespielt, als er hinfiel und seinen Geist aufgab. Wehklagend stürzte sich sein Weib und seine Mutter über ihn. Der Zar aber rief mit Donnerstimme: „Spät, aber gerecht ist Gottes Strafe! Dem Elenden sei ein elender Tod!“
Text: Public Domain Mark 1.0
Quelle:
Aus dem Buch „Irgendwo und irgendwann“
https://archive.org/details/zarnachtigall/page/n7/mode/2up?q=Das+M%C3%A4rchen+vom+Garten+des+Zaren+und
Margret Budde
Im Advent 2023