Haben Sie sich bei der Auswahl Ihrer Lektüre schon einmal vom Wetter anregen lassen? Zum Beispiel in diesen Tagen, als die ersten Vorwarnungen ob des nahenden Orkantiefs zu hören und zu lesen waren? Und als der Sturm dann übers Land zog? Versuchen Sie es doch einmal mit den folgenden Lektürevorschlägen zum Thema Sturm. Klassische Literatur vom Feinsten.
Was der Wind kann
Wenn der Wind nicht einfach nur ein laues Lüftchen oder nur ein strammer Gegenwind für den Fahrradfahrer ist, sonder ein ausgewachsener Sturm jenseits der 75 Stundenkilometer, dann hat er oftmals zerstörerische Wucht. Er zerstört Hab und Gut, er löscht Menschenleben aus. Aber Stürme können auch sein: Schicksal, auch Glücksbringer, sie lösen Rätsel, scheiden Recht von Unrecht oder sind einfach nur der letzte Pfiff, die Spannung, das Drama – in der Literatur. Und dort sind Stürme oftmals auch die der Erregung, der inneren Verfassung – oder die im Wasserglas. All das hat die Literatur zu bieten mit ihren ganz unterschiedlichen Möglichkeiten der Sprache. Und wenn dann der Sturm zum Protagoinsten wird, dann kann er sogar eine Seele bekommen.
Im Radio zu hören
In der Weltliteratur gibt es dazu so einige Werke. Darüber werden sich viele Leserinnen und Leser nicht wundern, aber auf die Idee, es einmal „mit Hilfe“ des Wetters anzugehen bei der Lektüreauswahl, kommt man vielleicht doch nicht unbedingt. Und wenn es dazu auch noch Unterstützung gibt, nämlich durch eine Rundfunksendung, warum nicht mal probieren. Und diese, auf die wir hier verweisen, ist nicht erst gestern gewesen, sie ist schon mehr als 6 Jahre alt und immer noch zum Nachhören und zum Download im Netz vorhanden. Das freut einen.
Wir haben uns jedenfalls gedacht, dass diese Art der Literaturvermittlung es verdient hat, hier bei uns vorgestellt zu werden, als Anregung zur Lektüre, aber auch, wer mag, dies als ein kleines Lernangebot zu verstehen.
Und doch – ein Text fehlt mir
Mir persönlich aber hat doch noch ein ganz anderer Text, eine Erzählung in der Auswahl gefehlt: Hurricane oder Die Nachrichten aus der Gesellschaft (1965), erzählt von Ernst Schnabel:
„Das Ganze war eine Sache von Luft; nichts; so gut wie nichts. Keiner kann nichts sehen. Maria Mujer war die erste, die es sah. […] Es war keine Luft in der Luft; es war ein Mittag, den wir meinen, war dumpf und drückend. Es war keine Luft in der Luft, es war ein Mittag aus grün sirrenden Fliegen und Gestank. […] Maria Mujers Augen flatterten. Ihr Mund flatterte. Atem und Flüstern und ein flatternder Blick auf die Heiligen in der Schachtel. Es war aber nicht Melancholie, was sie irritierte, Melancholie wäre ein exzentrischer Zustand gewesen. Maria Mujer saß dagegen genau in der Mitte dieses stinkenden Mittags, und ihr war angst. […] Was sie aber plötzlich auffahren, starr werden und mit weißquellenden Augen auf das Pflaster stieren machte, was sie mehrere Minuten lang in Atem hielt, in Schrecken wie eine Erscheinung, war der Papierfetzen, der liegengeblieben war, wo eben noch die Chaise des Konsuls gehalten hatte. Es war ein Zeitungspapier, ein Fetzen der >Times<, um es genau zu sagen, und der bewegte sich. Er war zerknüllt, denn er hatte auf dem Mercado gelegen und die Soldaten waren darübermarschiert. Trotzdem schien er noch, leuchtete blendend herüber, wie er sich rührte. Er regte sich wenig zuerst, er hob einen Zipfel. Er hob die Ecke , schurrte ein Stück weit über das Pflaster hin, schaukelte sich und fiel wieder um. Dann aber stand das Zeitungsblatt auf, das tote Ding in der Windstille, stellte sich auf die hohe Kante, bog sich, drehte sich sanft wie im Traum, hob sich, stieg in die Höhe, stieg wiegend und in ausholenden Schwüngen, schließlich zu engen, genauen Spiralen entschlossen, stieg weiter, stieg über die Dächer und die beiden Türme der Kathedrale und schraubte sich hoch in den Himmel, der nicht mehr blau war, ssondern weiß überzogen mit bräunlich versengten Rändern, wie Maria Mujer wahrnahm, stieg kerzengerade und lautlos und verlor sich, wo vieles verloren schien. Maria Mujer sagte mit grauen Lippen: Mein Gott.“
Und das war erst der Anfang von einem großen Sturm, einem Hurricane… Vielleicht noch wenige Sätze mehr von diesem grandiosen Spannungsaufbau?
„Physikalisch genommen war es ein Folge der planetarischen Konstitution der Erde, was die >Times< ihrer natürlichen Schwere beraubt hatte, selbstverständlich nur dieses einzelne Exemplar des angesehenen Blatts – einer übrigens alten Nummer, denn die zweihundertneununddreißig Nachrichten aus der (und für die) Londoner Gesellschaft auf der Titelseite dieser Ausgabe, deren Fetzen sich vor Maria Mujers Augen aus dem Unrat des Mercado Colon erhoben hatten, datierten, wie nachgeprüft ist, vom Freitag, dem 2. August, und hatte mithin volle vierzig Tage gebraucht, bis sie die dominikanische Hauptstadt erreicht hatten, dem britischen Geschäftsträger beim Gobierno der Spanischen Krone zugestellt und aus seiner Hand auf der Plaza weggeworfen worden war, um wenig später im Himmel dieses drohenden Mittags zu verschwinden. […] Es wurde wirklich finster, und zwar sehr bald. Dieser Finsternis gingen einige lautlose Entwicklungen voraus, aber wir kennen niemanden in Santo Domingo, der sie alle bemerkt, geschweige denn ganz erkannt hätte. Maria Mujer faßte beispielsweise, als sie wenige Minuten nach dem Verschwinden des Zeitungsblatts noch einmal zum Himmel aufblickte, in der Hoffnung, daß sich die Fetzen dort doch noch oder doch wieder entdecken lassen möchten, ihre Beobachtungen in einer höchst lückenhaften Bemerkung zusammen. Sie flüsterte: Die Sonne! Sieh dir das an…“
Und auf dem Meer? Vielleicht noch diese Sätze.
„Dies war die Situation am 17. September 1861 gegen 17 Uhr auf 32°22′ nördlicher Breite und 64°39′ westlicher Länge: man sah im Süden einen Blitz den Himmel spalten. Er zündete, und es gab einen hellen Feuerschein. Viele Leute müssen diesen gewaltigen Blitz gesehen haben, sowohl auf den Inseln wie auf den Schiffen, aber wer sah ihn? […] Am Himmel kreiste ein maßloses Schwungrad aus Luft, Dmpf und Hitze, uner dem das Meer kochte; Springfluten erhoben sich, Städte wurden verheert… er wälzte sich weiter und verwüstete die Bahamas. Vor den Bermuden standen zweihundert Schiffe im Sargassomeer, die ihm entgegensahen. Sie trafen ihr Vorkehrungen. Auch die vierundsechzig Fahrzeuge, die ihm zum Opfer fallen sollten, versorgten sich: anderthalbtausend Mann kürzten die Segel, zurrten die Anker fester und icherten die Luken; im Süden war eine Wetterwand aufgezogen. Sie sahen auch noch die Sonnen hinter der Wand versinken. Wiederkehren sahen sie sie nicht, denn sie starben alle in der Nacht.“
Alle Zitate in: Ernst Schnabel, Auf der Höhe der Messingstadt. Zwei Erzählungen, München 1984
Und es geht noch weiter mit diesen mitreißenden Beschreibungen, den „Aufarbeitungen“ des Hurricanes, denn es hatte auch Überlebende gegeben, und kleine Wunder…
Zu der Erzählung, ihrer Entstehung, die auch zu einem Hörspiel umgearbeitet wurde, findet man Informationen im Buch selbst, als 4. Kapitel, oder hier in der Hörspieldatenbank.
Mehr zum Autor Ernst Schnabel
Die Erzählung ist leider nur noch antiquarisch erhältlich, aber überaus günstig zu erstehen.
Übrigens zieht schon wieder der nächste Sturm heran, mit Regen, also, gutes Wetter für Lesestunden.