Chinesische Gegenwartsliteratur
(esk) China ist – mal wieder – in aller Munde, die Wirtschaft stockt. Ist dem wirklich so? In Zahlen gesehen, ja, China selbst sagt, es konsolidiert sich. Vor allem Europa und die USA sehen es eher als ein Stocken, in China selbst zwar auch, aber man sagt es nicht so laut. Aber wie sieht eigentlich der Alltag in China aus? Die Literatur kann einen Einblick geben – chinesische Gegenwartsliteratur in 88 Miniaturen.
Wahr ist, dass sich auch sonst, nicht nur wirtschaftlich, in China viel tut, und das schon seit Jahren. Bezieht man es etwas eingegrenzter auf Kunst und Kultur, oder noch deutlicher, auf die Literatur, dann kommt man auch bezüglich der Menge an neuerer und neuer chinesischer Literatur kaum mehr nach. Man hat ja auch noch so seine anderen literarischen Vorlieben. Abhilfe schaffe ich mir in solchen Situationen immer gerne, wenn denn irgend möglich, mit Anthologien. Und hier konnte ich tatsächlich fündig werden, zudem auch noch mit einem ganz neuen Trend: Miniatur-Literatur.
Der dritte Band der Reihe Chinesische Gegenwartsliteratur, erschienen 2015 in Wien, wartet mit 88 Miniaturen in verschiedenen Erzähltechniken auf. Und da sowohl bekannte Autoren als auch Durchschnittsbürger sich an diesem neuen Genre (die Originalausgabe erschien in Beijing allerdings schon 2009)versucht haben, bekommen wir einen recht guten Einblick in die gegenwärtige Kultur Chinas. Auch bei dieser Erzählform gilt: Kürze erfordert Prägnanz. Und da hilft es auch nicht, wenn die Themen und Probleme groß sind. Im Gegenteil, diese Miniatur-Erzählungen scheinen ganz besonders in der Lage zu sein durch ihre Kürze das doch auch sehr komplizierte Leben in China zu reflektieren und uns Europäern einen guten Einblick zu geben. Denn manch einem Zeitgenossen ist immer noch nicht so ganz klar, dass sich die Verhältnisse seit Mao doch mächtig verändert haben.
Zu erfahren ist in oft humorvollen, fast immer lebendigen aber kurzen Ausschnitten und Porträts das Leben in den letzten Jahrzehnten in China. Es geht vornehmlich um sozialen Wandel, mal deutlich beschrieben, mal eher kaschiert, aber immer geht es um Momentaufnahmen des chinesischen Lebens. Was also könnte uns, da wir ja eher nicht mal eben nach China jetten können, einen aktuelleren Einblick in die chinesische Lebenswelten verschaffen, als solche Erzählungen. Und da wie schon gesagt auch Gelegenheitsautoren zu dieser Sammlung beigetragen haben, ist Lebensnähe garantiert.
Nachdem ich einige dieser Miniaturen gelesen hatte, überkam mich denn doch der Wunsch zu schauen, wie ein international anerkannter, ehemals politischer Häftling und an der Ausübung seines Berufes als Schriftsteller gehinderter chinesischer Dichter, Liao Yiwu, das Leben in China beschreibt. In die Hand genommen habe ich den wunderbaren Band mit Gesprächen, Fräulein Hallo und der Bauernkaiser, die der Autor mit Chinas Gesellschaft von untern, mit den Außenseitern Chinas geführt hat: Menschen, die er in Restaurants und Nachtclubs, bei Gelegenheitsjobs und in Teehäusern, in der Buchhandlung, auf der Straße und im Gefängnis gesprochen hat. Auch hier ein Panorama des Lebens einfacher Menschen, vielfältiger sicherlich als das offizielle China es sieht, und von dem Rand der Gesellschaft, von dem dieses nicht ganz so gerne liest. Herausgegeben hat das Buch der Autor im Jahr 2002, in Deutschland erschien es 2009.
Erhellender Hintergrund
Über den Autor kann man sich hier informieren
Liao Yiwu bei Wikipedia
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2012 – Liao Yiwu
Empfehlenswert sind folgende Zeitungsartikel, übrigens inkl. der Kommentare:
Was hat der Schriftsteller wirklich erlebt, was hat er erfunden?
Leider hat die Wochenzeitung DIE ZEIT ihr Angebot dahingehend geändert, dass Artikel z.T. nur noch nach Registrierung bei ZEIT+ gelesen werden können. Das kostet nichts, aber wer das dennoch (verständlicherweise) nicht mag, kann in diesem Fall wenigstens die Kommentare zu dem Artikel lesen.
Ai Weiwei und Liao Yiwu Einer musste sich erst Mut antrinken
Nachschub
Der bei uns vielleicht nicht so bekannte Löcker Verlag aus Wien hat nach diesem dritten Band zum Glück nicht schon aufgehört mit der Veröffentlichung chinesischer Gegenwartsliteratur, man ist derweil bei Band 8. Jeder Band ist einem anderen Thema gewidmet, jeder zeugt vom Wandel dieses großen Landes. Wirklich? Nun, man kann natürlich nicht erwarten, dass ein chinesisches Buch, zu dem ein früherer Kulturminister Chinas das Vorwort geschrieben hat, kritisch die sozialen und insbesondere politischen Verhältnisse wiederspiegeln kann. Eben dieser ehemalige Minister beklagt denn auch die Missverständnisse, die über sein Land in der Welt verbreitet werden. Das kann man so sehen, aber frei ist das Land, ist die Bevölkerung dieses Landes in seiner Meinungsäußerung nicht, ist Willkür allgegenwärtig. Dennoch, es ist immer gut und richtig über ein Land zu lesen, insbesondere wenn es um Alltägliches geht, von Autoren aus dem eigenen Land. Es gibt einen wichtigen Einblick in den Alltag, die Lebensverhältnisse Chinas, und von denen wird auch hier nicht nur positiv erzählt.
Trotz allem also jetzt nochmals ein Blick auf die Reihe zur chinesischen Gegenwartsliteratur des Löcker Verlags: Wer sich jetzt trotz der genannten Einschränkungen nicht davon abhalten lassen will sich ein eigenes Bild von eben dieser Literatur zu machen, und wem auch nach anderen Themen gelüstet, hier die Liste der 8 Bände:
Bd.1 : Die Hochzeit in Gummistiefeln, Erzählungen kleinerer Volksgruppen in China, Herausgegeben von Shi Zhanjun
Bd. 2: Pflaumen regenfeucht Erzählungen über die Jugend, Herausgegeben von Xie Youshun
Bd. 3: Ein gefallenes Blatt, Miniaturerzählungen, Herausgegeben von Bing Feng
Bd. 4: Straßenzauberer, Volkstümliche Erzählungen, Herausgegeben von Liu Tao
Bd. 5: Die Maske, Geschichten über das Leben in der Stadt, Herausgegeben von Li Jingze
Bd. 6: Die Welt ist die Ewigkeit, Erzählungen von Frauen
Bd. 7: Jadelicht und Liebesknoten, Erzählungen von Sehnsucht und Schmerz, Herausgegeben von Zhang Yiwu
Bd. 8: Auf in die Stadt, Erzählungen vom Land, Herausgegeben von Zhang Yiwu
Viel Freude beim Lesen!
Ellen Salverius-Krökel
Gedichte zum Hören
(esk) Seit geraumer Zeit, und bedingt sicherlich durch das eine oder andere Ereignis wie Literatur-Preise o.ä., sind Gedichte wieder ein Vogue.
Eher keine neue Idee, sondern ein über Jahrzehnte fortgeführtes Zeitungsprojekt, wenn auch mittlerweile nicht nur gedruckt zu haben, ist die vielfach und immer hoch gelobte Frankfurter Anthologie. Nicht zu vergessen natürlich der Begründer dieser wunderbaren Gedichtsammlung und den Erläuterungen, Analysen, Interpretationen dazu.
Nicht nur gedruckt bedeutet hier bei uns dann immer „im Internet“ zu haben. Hier sogar im Audio-Format. Versuchen Sie es doch mal mit dem Goethe’schen Epigramm in Sachen Mensch und Hund – sind beide nun ein Schuft? Jedenfalls hatte Schopenhauer sich genötigt gefühlt darauf zu antworten, mit einer Antistrophe. Hörenswert, unbedingt! Nicht zur Verfügung allerdings stehen hier die Interpretationen.
Wenn Sie dann nicht erstmal darüber nachsinnen wollen, sondern gleich mehr Gedichte hören wollen, und zwar aus fast allen Epochen der Literaturgeschichte, dann einfach über dies Startseite der Frankfurter Anthologie bei der FAZ einsteigen und das für sich passende auswählen. Allerdings müssen sie auf den folgenden Seiten auf die richtige Sparte achten, denn es gibt hier auch Videos zu verschiedenen anderen Kulturereignissen bzw. Beiträgen aus dem Feuilleton. Aber auch im Netz gilt ja immer wieder gerne: Unverhofft kommt oft!
Ellen Salverius-Krökel